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Israel, der Gazakrieg und jüdisches Leben in Deutschland

Worte des Superintendenten Dr. Johannes Krug

RSSPrint

Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 bedeutet eine Zäsur: Zuerst und vor allem für die Opfer des Terrors, der israelische Zivilisten - Kinder, Frauen und Männer - traf. Für alle, die um ihre Toten trauern, für alle, die immer noch als Geiseln in den Fängen der Hamas ausharren und für alle, die um sie bangen – dauert der Horror noch an, er ist jetzt.

Eine Zäsur bedeutet das Massaker der Hamas auch für das palästinensische Volk, in dessen Namen die Terror­organisation vorgibt zu handeln. Israels Reaktion in einer extrem dicht besiedelten Fläche (sie ist kleiner als Köln, dort leben aber doppelt so viele Einwohner) zielt zwar auf die Terroristen, bringt aber auch Elend und Tod über viele Kinder, Frauen und Männer – oft auch deshalb, weil sie von der Hamas als menschliche „Schutzschilde“ missbraucht werden.

Eine Zäsur bedeutet der 7. Oktober schließlich auch weit über Israel und den Gazastreifen hinaus – 85 Jahre nach der Pogromnacht ist jüdisches Leben in Deutschland (und andernorts) real bedroht. Bilder von Gewalt- und Terror verherrlichenden Demonstrationen beginnen auch die Migrations- und Integrationsdebatten zu verändern.

Anders als im Ukrainekrieg geht in der Folge des 7. Oktobers ein Riss durch die Gesellschaft.

Im Folgenden wird eine evangelische Standort­bestimmung angeboten. Sie ist in Thesen formuliert und verzichtet darauf, wo immer möglich, Verbin­dungen oder Querbezüge herzustellen. Derzeit wird zu schnell zu viel vermischt, was sorgsam unterschieden gehört. Dazu riskiert jeder hergestellte oder suggerierte Zusammenhang, ob nun kausal („weil“), konzessiv („obwohl“) oder auch nur temporal („nachdem“), als Rechtfertigung missverstanden zu werden. Noch nie waren Konjunktionen so gefährlich wie heute.

Derzeit helfen Thesen am besten zur evangelischen Orientierung. Möge es zu einer anderen, friedlicheren Zeit möglich sein, gemeinsam die ganze Geschichte dieser Tage zu schreiben.

  1. Ausgangspunkt einer Evangelischen Standortbestimmung ist das Bekennt­nis zur bleibenden Verbunden­heit mit dem jüdischen Volk. Diese Klarheit ist biblisch grundgelegt, sie gilt ohne Wenn und Aber. Sie ist Glaubensräson. Jeder Versuch, die bleibende christliche Verbundenheit mit dem jüdischen Volk zu verwischen, einzuschränken oder zu missachten, verrät nicht nur die eigene biblische Tradition, sondern auch das jüdische Volk und Gott selbst, „der Bund und Treue hält ewiglich“.
     
  2. Zusätzlich der religiösen Verbunden­heit mit dem jüdischen Volk bejahen wir ausdrücklich das Existenzrecht des Staates Israel. Grundlegend ist für uns Römer 13: Wie jedes andere Volk hat auch das jüdische Volk ein Recht auf staatliche Schutzmacht. Mehr als alle anderen Völker ist das jüdische Volk auf den staatlichen Schutzraum existentiell angewiesen. Dafür zu stehen, gehört zum Erbe unserer politischen Verantwortung für die Shoa.
     
  3. Die Verbundenheit mit dem jüdischen Volk und das Bejahen des Existenz­rechtes Israels schließen den offenen Meinungsaustausch mit unseren jüdischen Partnern und auch das kritische Wort gegenüber israelischem Regierungshandeln nicht aus, sondern ein.
     
  4. Unser Platz ist bei den Opfern: Wir hoffen und beten für die von der Hamas verschleppten Geiseln. Wir gedenken der Toten auf israelischer und palästinensischer Seite. Wir lehnen eine Hierarchisierung des Leides ab.
     
  5. Wir unterscheiden aber die Verant­wortlichkeit für das Leiden. Für die Hamas war am 7. Oktober eine Maximie­rung der zivilen Opfer das Ziel. Darüber hinaus sprechen alle Anzeichen dafür, dass die Terror­organisation die Bilder des Leids der eigenen Bevölkerung zynisch in ihre Kriegsstrategie einkalkuliert hat. Israels Strategie zielt dagegen auf die Hamas und lässt das Bemühen erkennen, zivile Opfer möglichst zu vermeiden. Es gibt zwar keine Hierarchie des Leides, es gibt aber eine Hierarchie des Bösen.
     
  6. Wir hüten uns davor, unreflektiert von „propalästinensischen Demon­stra­tionen“ zu sprechen. Wir bestreiten, dass der Terror der Hamas repräsen­tativ für das palästinensische Volk und Gewaltverherrlichung in seinem Interesse ist.
     
  7. Im Kirchenkreis Teltow Zehlendorf gibt es seit Jahrzehnten ein großes Engage­ment für geflüchtete Menschen und ebenso für eine Erinnerungskultur als Teil unserer Verantwortung nach dem Zivilisationsbruch des National­sozialismus. Beide Felder unseres Engagements waren, sind und bleiben - mehr denn je - notwendig
     
  8. Wir treten der falschen Pauschalisie­rung entgegen, die Geflüchtete aus dem muslimischen Kulturraum zu Antisemiten stempelt. Viele Geflüchtete suchen bei uns Schutz vor der Gewalt in ihren Herkunftsländern. Wer hierzulande das Demonstrationsrecht missbraucht, um Terror und Gewalt zu verherrlichen, bedroht uns, einschließ­lich der großen Mehrheit aller Geflüchteten. Wo uns bei Geflüchteten allerdings Anzeichen von Antisemitismus begegnen, vertreten wir unmissverständlich unsere bleibende Verbundenheit mit dem jüdischen Volk und unsere Klarheit im Blick auf das Existenzrecht Israels. Bleiben hier Differenzen unüber­brückbar, beenden wir unsere Unterstützung im Asylverfahren.
     
  9. Für eine Weiterentwicklung unserer Erinnerungskultur ist es an der Zeit, dass wir die Vielzahl an Erinnerungsorten, -Initiativen und Projekten unter einem Dach sammeln. Der Verein Martin-Niemöller-Haus in Dahlem e. V. entwickelt sich aktuell in diese Richtung und verdient unsere gemeinsame Unterstützung.
     
  10. Die Erinnerungsarbeit in Teltow-Zehlendorf erinnert uns auch an das Versagen von Christen und unserer Kirche im Nationalsozialismus. Auch wenn die Zeiten, Gott sei Dank, ganz andere sind und auch wenn wir heute, Gott sei Dank, in einem freien Land leben: 85 Jahre nach der Reichspogrom­nacht, wenn erneut jüdisches Leben bedroht ist, ist es unsere Aufgabe, aktiv und vernehmbar an der Seite von Jüdinnen und Juden zu stehen.
     
  11. Aktiv und vernehmbar sind wir dann, wenn wir unsere wirkungsvollsten Kommunikations­kanäle nutzen. Wirkungsvoller als synodale Verlautbarungen ist ein Ansatz, der auf den Religionsunterricht (mehr als 8000 Kinder und Jugendliche im Kirchenkreis), die Konfir­mandenarbeit (12% aller Konfirmanden der EKBO bei uns), die Jungen Gemeinden, unsere Weihnachtsgottesdienste, Gemeindebriefe, die Kontaktflächen unserer diakonischen Partner sowie darüber hinaus auch auf die Dialogformate mit muslimischen Partnern setzt. Es gilt auch hier: Je integrierter wir ansetzen und je konzertierter wir als Evangelische Familie kommunizieren, desto vernehmbarer wird die evangelische Stimme sein.
     
  12. Die kommenden Advents- und Weihnachtswochen sind Chance und Verpflichtung, ein sichtbares Zeichen unserer bleibenden Verbundenheit mit dem jüdischen Volk zu setzen. Vielfach und wohltuend deutlich haben kirchenleitende Stimmen in den vergangenen Wochen Position bezogen. Dagegen bleibt die vor dem 7 . Oktober von der Landeskirche geplante Weihnachtskampagne („Oh, mein Gott“ und „Du bist nicht allein“) dahinter zurück. Sie wirkt nach der Zäsur zu passiv, zu harmlos und als lautes Schweigen. Weihnachten 2023 ist es an der Zeit zu zeigen, dass wir gelernt und verstanden haben: Nie wieder ist jetzt.