Liebe Leserin, lieber Leser,
die Jahreslosung für das Jahr 2023 ist ein nur einziger Satz. Lediglich aus sieben Wörtern besteht er. Wenige Worte genügen, um einer Erfahrung mit Gott Ausdruck zu geben. In den einen Satz gebracht, ist diese Gottes-Erfahrung im Grunde ein Glaubensbekenntnis.
Vielleicht klingen Ihnen diese Worte noch im Ohr. Denn dies war das Motto des Kirchentags 2017, der in Berlin und Wittenberg gefeiert wurde. Im Zuge dessen sind aus diesem Satz, aus dieser Erfahrung, aus dieser Sichtweise Bibelarbeiten und Lieder entstanden.
Es ist Hagar, die diese Erfahrung gemacht hat: Gott sieht mich. Gott sieht dich. Und das mitten in einer Situation, die alles anderes als glanzvoll ist. Sie ist auf der Flucht, geflohen vor ihrer Herrin Sara, die sie als Sklavin schlecht behandelte. Es ist ohnehin schon ein Unding, dass Menschen zu Sklaven gemacht werden und das bis auf den heutigen Tag.
Hier geht es noch einen Schritt weiter. Hagar wird zur Leihmutter des ersehnten Erben Abrahams gemacht. Nicht nur über ihre Arbeitskraft wird verfügt, sondern auch noch über ihren Körper. Dies war zwar durchaus üblich in der damaligen Zeit, macht es aber auch nicht besser. Wie häufig in der Geschichte der Erzeltern Sara und Abraham hält sich Abraham aus allem heraus. Das Vorbild in Sachen Glauben ist auch hier passiv und gibt seine Verantwortung ab.
Hagar wird schwanger und zwischen den beiden Frauen kommt es zum Konflikt, der so bedrohlich ist, dass Hagar sich genötigt sieht zu fliehen. Jetzt ist sie in der Wüste. Auf dem Weg zurück nach Ägypten. Von dort kommt sie ursprünglich. Fast am Versursten ist sie. Da erscheint ihr Gottes Bote und fragt sie: Wohin willst du? Sie will weg von dort, woher sie kam. Doch der Bote sagt ihr: Kehr zu deiner Herrin zurück. Doch das ist nicht alles. Denn auf dem Kind, das sie erwartet, liegt Gottes Segen. Und im Namen des Kindes steht Gott selbst. Ismael soll der Name des Kindes sein und das bedeutet: Gott hört.
Gott hört und sieht.
Wäre Hagar nicht zurückgekehrt, wäre ihr Kind nicht legitimes Kind (Abrahams) geworden. Ein hartes Schicksal für Hagar. Doch sie nimmt es an und deutet ihrer Lebens-Geschichte im Horizont der Geschichte Gottes mit uns Menschen. Du bist ein Gott, der mich sieht.
Das passiert in der Wüste so nur Mose. Auch er in der Wüste – auf dem Weg genau in die andere Richtung. Beide Male ist es eine Befreiungsgeschichte. Beide Male geht Gott mit.
Menschen erleben und erfahren Anerkennung, wenn sie gesehen und beachtet werden. Die Sklavin Hagar erlebt soziale Würde, weil Gott sie sieht und ihre Not anerkennt und wendet. Wenn ich sehe und gesehen werde, bin ich.
Sehen und Gesehen-Werden – wer will das nicht. Hat mein Leben denn so viel „Ansehnliches“ und „Sehenswertes“? Was aber, wenn nicht? Manchen beschämt dies, schließt es aus, verhindert Teilhabe. Gerade Menschen in Armutslagen sind davon betroffen, weil sie keinen Zugang dazu haben, auf sich aufmerksam zu machen. Darum geraten sie aus dem Blick anderer, die helfen könnten.
Der Wunsch danach, gesehen zu werden, gehört zum Menschsein dazu, die mit Blicken einhergehende Kraft und Macht, ist nicht zu unterschätzen. Sie sind Zeichen der Liebe und Aufmerksamkeit, können aber auch verletzen. Blicke können tödlich sein.
Du bist ein Gott, der mich sieht (und hört). Das sind Erfahrungen. Die Erkenntnis, das Verstehen und Deuten kommen erst danach. So gesehen ist es einerseits eine Rückwärtsschau: ich habe diese Erfahrung gemacht. Und andererseits was daraus folgt, ist nun bedeutsam für mein Leben jetzt und in Zukunft. In dieser Erfahrung liegt die Kraft für Hagars weiteren Lebensweg. Sie geht zurück. Sie bleibt Sklavin. Sie bekommt ihr Kind. Ob sich das Verhältnis zu Sara wirklich ändert, erfahren wird nicht.
Das Neue im Alten, ohne dass alles radikal anders wird. Schade oder realistisch? Oder macht es eben doch den Unterschied, wenn ich mein Leben im Ansehen Gottes lebe? Ich glaube das. Ich bin gesehen und angesehen. Und diesen Blick Gottes kann ich auch anderen getrost gönnen.
Wie neu ist denn Ihr neues Jahr? Ist es ein gänzlich unbeschriebenes Blatt? Wozu kehren Sie denn zurück im neuen Jahr? Wohin wollen Sie zurück? Und wohin müssen Sie zurück?
Gott sieht uns und das ist folgenreich, gibt eine gute Aussicht. Gott sieht gerade die, die sonst keiner sieht. Gottes Blick ist nicht exklusiv nur für mich zu haben.
Im Segen Gottes erfahren wir das immer wieder neu: Gott lässt sein Angesicht über uns leuchten und gibt uns Frieden.
Das ist Versprechen und Verheißung, das ist Hoffnung und Vertrauen, das ist eine gute Perspektive für ein ganzes neues Jahr. In diesem Sinne wünsche Ihnen ein gesegnetes neues Jahr.
Ihre Claudia Kusch
Pfarrerin Claudia Kusch,
derzeit tätig als theologische Referentin im Kirchenamt der EKD
claudia.kusch(at)ekd.de
Mitarbeiterin der gemeinsamen Aktion aller Landeskirchen #deinetaufe www.deinetaufe.de