Du allein kennst das Herz aller Menschenkinder. (1. Könige 8,39)
Der Monatsspruch stammt aus dem 1. Buch der Könige, einem Gebet des Königs Salomo bei der Tempelweihe. Nachdem Salomo seinem Volk erklärt hatte, warum er den Tempel gebaut hat, hielt er stellvertretend für das Volk dieses Gebet. Er demütigte sich vor Gott, gab IHM Ehre für seine Herrschaft und betete um Erfüllung der Gottesverheißung. Salomo war klar, der Tempel wurde gebaut, nicht weil Gott den Tempel brauchte, um dort zu wohnen: „Denn sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel können dich nicht fassen, wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“ (1. Könige 8,27) Dieses Haus war vorwiegend für Menschen da, die die Nähe Gottes suchten und einen Ort fürs Gebet brauchten, besonders wenn sie sich mitten in einer Krise ihres Lebens an Gott wandten, über eigenes Verhalten reflektierten und sich neu orientieren wollten. Salomo betete, dass Gott über das Haus wache und die Gebete der Menschen erhöre.
Wenn wir den Text genauer lesen, werden wir unschwer merken können, dass der Erzähler und seine Leser*innen viele Krisen des Volkes Israels vor Augen hatten: Belagerung der Städte, Niederlage vor Feinden, Deportation in fremde Länder, Hungersnöte, Plagen und sogar die Pest.
Im Munde Salomos hat jedes Verhalten seine Konsequenzen. Das Unheil, das Menschen erfahren müssen, kann oft auf eigene Fehler zurück geführt werden, auf Fehler gegenüber Mitmenschen oder Gott. Tun-Ergehen-Zusammenhang heißt das in der Forschung des Alten Testaments. Solche Gedanken sind auch heute überall auf dieser Welt zu finden. Ein Gott oder ein Naturgesetz sollen Balance auf dieser Welt garantieren und für Gerechtigkeit sorgen. Deswegen hat eine Krise die Funktion einer Mahnung Gottes.
Für den Verfasser des Textes ist die Umkehr zu Gott, der Recht schafft und gleichzeitig gnädig ist, ein Anfang der Rettung. Der Monatsspruch ist ein Einschub ins Gebet, ein vertrauensvolles Bekenntnis zu Gott. Gott sieht Menschen anders als das menschliche Urteil. Wenn jemand einen Fehler begangen hat, wird er oder sie in der Gesellschaft oft nur auf seine Fehler reduziert und als „Sünder/in“ bezeichnet. Diese „Label“ haften lange an den Menschen und sind schwer zu entfernen. Die Angst vor Strafe verhindert Menschen, offen ihre Schuld zu bekennen. In den Augen Salomos fokussiert Gott aber nicht auf die fehlerhafte dunkle Seite eines Menschen, sondern sieht ihn als Ganzen, der vielseitig und vielschichtig ist, der liebenswert ist und ganz viel Potential hat. Das ist der Grund, warum Menschen immer ohne Angst zu Gott kommen können, weil Gott alles sieht und vergibt. Das Bekennen der eigenen Fehler vor Gott ist eine Befreiung für sich selber.
Seit Anfang des Jahres ist die Welt von der schnellen Verbreitung des neuartigen Coronavirus überrascht. Warum diese Krise ausgebrochen ist und warum das Virus so rasch verbreitet wurde, wurde nicht selten thematisiert. Bei der Verfolgung der Infektionskette kommt die Schuldfrage immer wieder auf. Länder beschuldigen sich gegeneitg und vermeiden, falsche Entscheidugen einzugestehen. Löchrige Gesundheitssysteme werden bemängelt. Einzelne Menschen werden stark unter Druck gesetzt, wenn sie andere Menschen mit der Krankheit angesteckt haben. Viele sind besorgt und verunsichert, weil sie nicht wissen, wie sie mit den Regeln, die teilweise widersprüchlich sind, umgehen sollen. Viele erkennen nicht nur Fehler anderer Menschen, sondern auch den eigenen Anteil an der grenzenlosen Ausbeutung der Natur.
Für mich ist tröstend zu glauben, dass Gott das Herz aller Menschen kennt, darunter auch mein Herz. Vor Gott darf ich klagen, was mich ärgert, und ich darf hoffen, dass eines Tages Gerechtigkeit siegen wird. Vor Gott darf ich meine eigene Unzulänglichkeit bekennen, in der Zuversicht, dass ER mir vergibt und mir Mut schenkt, alles neu zu machen. Durch seine Gnade bekomme ich auch Kraft, denen zu vergeben, die mich verletzen.
Die Kirche als ein Teil der Gesellschaft ist sehr von der Krise betroffen. Seit Ende März ruhen die Gottesdienste in den Kirchen. Diese Situation schmerzt uns sehr, besonders Menschen, die sich mit der Kirche eng verbunden fühlen. Ab Himmelfahrt feiert die Gemeinde unter strengen Auflagen wieder Gottesdienst in der Kirche. Bei den Gesprächen habe ich oft gehört: „Was können wir aus der Krise lernen?“ „Fangen wir neu an, oder wollen wir nur schnell in den 'normalen Wahnsinn' zurückkehren?“ Ich glaube, die Welt während und nach der Corona-Zeit wird eine andere Welt sein als zuvor, unsere Kirche auch. Gott sei Dank, dass unser Gott unsere Herzen kennt und für uns da ist, egal in welcher Situation wir uns befinden. Das Haus Gottes bleibt immer ein Ort des Gebets und ein Zeichen der Gnade. Amen.
Pfarrerin Luping Huang