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RSSPrint

Jahreslosung 2021

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.  (Lukas 6,36)
Foto Christina-Maria Bammel
Dr. Christina-Maria Bammel

Das Wunder der Barmherzigkeit kann 2021 Funken schlagen

Ein kurzer Imperativ. Das alte Wort – Barmherzigkeit – leuchtet über dem Jahr 2021 auf. Welche Erfahrungen werden Sie damit machen? Der Anspruch für dieses Jahr ist knapp und nötiger denn je: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist (Lukas 6,36)!

Gerechtigkeit und unser Leben aus Erbarmen

Sind nicht Gerechtigkeit und Gleichstellung nötiger? Barmherzigkeit nutzt innerhalb der Gerechtigkeit Freiräume, um die Gerechtigkeit gerechter zu machen. So die Sozialethikerin Michelle Becka. Barmherzigkeit unterbricht die Routinen des „payback” und des allgemeinen Ausgleiches, gibt Raum für den einzelnen Menschen vor allem. Barmherzigkeit ist keine „Mitleidsfalle”. Es geht darum, sich vom geteilten Schmerz umarmen und verändern zu lassen. Damit beginnt unsere Menschlichkeit.

Gott – Mensch aus Mitfühlung

Als barmherzig wird Gottes Wesen und Wirken in der Bibel bezeugt. Da kommen wir her. Das ist der Herzschlag des Evangeliums von Jesus Christus: Gottes Mitgefühl geht bis zum Äußersten. Wir lassen uns davon umarmen in der Heiligen Nacht und darüber hinaus: Gott hält es nicht bei sich, wird Mensch aus Mitfühlung, damit wir nicht dem Machbarkeitswahn erlegen zu Götzen, sondern zu wirklich menschlichen Menschen werden können. Am besten wird es erzählt statt behauptet. Ich erinnere mich: Israel in der Sonnenglut. Wir gingen den schmalsteinigen Weg von Jerusalem kommend hinunter nach Jericho. Man muss hintereinander laufen. Rechts und links Felswände und - ein Abgrund. Nicht viele Menschen sind unterwegs. Ich stelle mir vor, dass es auf dieser Wegstrecke auch einsam wird, geht man hier nicht zu zweit oder dritt. Da soll es der Überlieferung nach gewesen sein. Ein Überfall, erzählt Lukas, ein Opfer auf dem Weg. Er hatte keine Chance. Ich stelle mir vor, wie er auf dem schmalen Weg lag, blutend, gedemütigt von der Gewalt, ungeschützt in der Sonne. Wer steigt da mitleidlos drüber? Einer bleibt stehen, hilft. Kann nicht anders. Eine Geschichte von versorgten Wunden. Einer wird zum „Werkzeug der Barmherzigkeit”. Es sind schmale riskante Pfade, auf denen auch wir jenseits von Jericho gehen. Wo wir hinsehen, wer auf dem Weg liegt, wo nur Ohnmacht und Demütigung geblieben sind, wo die Kraft zum selber Aufstehen nicht reicht, die Lasten zu schwer sind zum Weitertragen, es für das Nötigste nicht langt. Was und wen wir auf unseren Pfaden sehen, wovon wir uns angehen lassen, da wird Barmherzigkeit konkrete Tat.

Das hebräische Wort „barmherzig” ist dem Wort der „Eingeweide Gottes” sehr ähnlich, gibt gewissermaßen einen Hinweis darauf. Die Wortwurzel verweist auf das Wort „Gebärmutter”. Wir alle sind dort für einen Augenblick unseres Lebens in dieser „besten Wohnung der Welt” umsorgt. So ist Barmherzigkeit, gibt diesen Liebesraum. Näher und umsorgter geht es nicht. Barmherzigkeit vergleichbar den väterlichen, mütterlichen, elterlichen Bindungen. Wenn es gut geht, wenn sie gelingen, gibt es ja kaum Stärkeres. Sie können fast alle tragen und aushalten. Elternliebe geht dir, wenn es darauf ankommt, mit Tempo entgegen, reißt die Arme hoch und umarmt dich. Auch wieder so eine Geschichte des Lukas vom verlorenen Sohn oder von der Vaterliebe. Barmherzigkeit wie Elternliebe.

Als Verunsicherte bleiben wir die Umarmten Gottes

Uns steckt eine kollektive Krankheitserfahrung in den Knochen, gemeinsame Verunsicherung. Durchkreuzte Pläne, begrabene Träume. Unsere Gewohnheiten haben sich verändert. Die Begrüßungen etwa. Kein Handschlag mehr. Öfter breiten jetzt sich grüßende Menschen andeutend die Arme aus, um zu zeigen: Freue mich, dich zu sehen. Ich schätze das: Die angedeutete Umarmung wie ein Zeichen von Einfühlung und Mitgefühl, für das, was wir brauchen, wonach wir uns sehnen – offen und empfangsbereit. So gehen wir einander zu Herzen wie wir als Menschen auch Gott zu Herzen gehen. Aber das wäre zu wenig, bliebe es nur bei der Geste. Beim Gefühl. Nochmal: Es geht ums Tun. Covid 19 hat einen Innovations- und Digitalisierungsschub bewirkt. Auch einen Verunsicherungsschub und Isolationsschübe. Wie lange noch? Unsere Antwort wird ein gemeinschaftlicher Barmherzigkeitsschub sein.

Seid barmherzig – wie auch nicht!

„Es gibt nur eine Gefahr, nämlich die, dass keine Barmherzigkeit geübt wird”, notiert S. Kierkegaard (Der Liebe Tun) vor fast 200 Jahren. Und meinte, wenn keine Barmherzigkeit geübt würde, sei das größer als alle zeitliche Not. Wir kennen für die ge-genwärtigen Nöte viele Namen. Aber die schlimmste wäre, Barmherzigkeit als Luxus zu sehen, den wir uns nicht leisten können. Wir brauchen sie, wo das „Über-Ich” uns individuell wie gesellschaftlich erbarmungslos antreibt zu immer noch mehr Erfolg, Durchsetzung, Leistung, Rechthaben. Wir brauchen sie mehr denn je, wo Hartherzigkeit zu Verrohung führt. Selig die Barmherzigen. Sie haben mehr als nur eine Gesinnung. Sie haben erfahren, wie Barmherzigkeit heilen, lindern, den Raum der Gerechtigkeit noch einmal weiten kann. Sie lassen sich angehen von der Not, weil sie nicht anders können. Meine Bitte:

Gott, mach uns zu Werkzeugen deiner Barmherzigkeit

Weder unser Wirtschaftssystem ist einfach so barmherzig, noch unsere Gesellschaft. Es sind aber auch nicht nur einzel-ne Männer und Frauen, die Zeichen der Barmherzigkeit gegen die Kräfte der Hartherzigkeit setzen. Es sind Frauen und Männer in communio, die leben, was Jesus gelebt und gelehrt hat. Auf deren Barmherzigkeit ruht Gottes Segen, sie werden zum Segen. Wir sind darin enthalten und halten uns offen für das Wunder der Barmherzigkeit.

Pröpstin Dr. Christina-Maria Bammel

Letzte Änderung am: 01.12.2020